Die letzten 25% (Einleitung)
Prof. Marion Digel & Dustin Jessen, 2018
Das Projektmodul Objekt/Material/Oberfläche behandelt in der Regel materialspezifische oder verarbeitungstechnische Aufgabenstellungen. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass die Studierenden es innerhalb eines Semesterprojekts selten schaffen, ihre Entwürfe über Experimente und Konzepte in Form von Modellen oder zweidimensionalen Visualisierungen hinaus zu bearbeiten. Noch erreichen Sie einen Punkt in der Gestaltung, an dem sie sich mit den Details beschäftigen können oder Fragen der Realisierung, Herstellung und Vermarktung behandeln können.
Aus diesem Grund konzipierten wir das Projekt Die letzten 25% in dem die Studierenden im 3. Studienjahr die Gelegenheit bekommen sollten, ein zuvor unabgeschlossenes Projekt zu Ende zu führen. Der Titel suggeriert, dass sich die gestalterische Arbeit in präzisen Prozentpunkten beschreiben lässt und soll zum kritischen Hinterfragen eben dieser Behauptung anregen. Ist ein Projekt jemals bei 0%? Wenn eine gute Idee die halbe Miete ist, aber die meiste Arbeit dann noch aussteht, wie weit bin ich dann eigentlich? Wann ist ein Projekt zu 100% abgeschlossen? Macht es überhaupt Sinn ein Thema abzuschließen? Muss nicht der Möglichkeit der Optimierung oder auch der Einräumung von Irrtümern stets eine Tür offen gehalten werden? Gibt es nicht immer noch etwas zu tun und wer ist am Ende eines Projekts schon wirklich zufrieden? Man kennt doch all die Eingeständnisse und Kompromisse, die man zu Gunsten der Realisierung des Projekts eingegangen ist. Und worauf beziehen sich diese Prozentpunkte überhaupt? Budget? Zeit? Zufriedenheit?
Abgesehen von den Fragestellungen, die sich unmittelbar aus dem Titel herleiten ließen, bot das Projekt vor allem den Raum, um praxisnahe Themen zu behandeln, die im Bachelorstudium leider häufig undiskutiert bleiben. Wie wird mein Produkt beworben? Mit welchen Firmen möchte ich kooperieren und wie nehme ich den Kontakt auf? Wie hoch ist das wirtschaftliche Potenzial meines Produkts? Auf welchem Weg wird mein Produkt vertrieben und was wird es kosten? Wie setzt sich der Preis zusammen und was bleibt für mich übrig? Die Gespräche drehten sich auch an dieser Stelle zwangsläufig um Prozente. Ob die Auseinandersetzung mit solchen Fragen jedoch erst zum Ende eines Projekts stattfinden sollte, war eine weitere Frage die diskutiert wurde. Denn dass Marketing und Vertrieb ebenso gestaltgebende Faktoren sein können wie Material und Fertigung war nur eine Erkenntnis unter vielen. Einblicke in Designverträge und deren Rahmenbedingungen verdeutlichten den Studierenden sowohl, wie sich gestalterische Leistungen gegenüber Kunden kommunizieren lassen, als auch die Schwierigkeiten in der Prognose des Arbeitsaufwands und der präzisen Beschreibung einer Design-Leistung. In welchem Maße ist ein Designprozess planbar? Besteht im Planbaren nicht auch die Gefahr des Generischen?
Um dieser Gefahr zu entgehen, haben wir stets versucht, den Studierenden zu vermitteln, dass sich der Designprozess nicht zwangsläufig in der in Designverträgen üblichen linearen Abfolge von Recherche, Konzept, Entwurf und Modellbau (oder so ähnlich) darstellen muss, auch wenn solch eine Strukturierung selbstverständlich Sinn machen kann. Im Idealfall begleitet die Recherche den gesamten Prozess und man begreift sie als permanenten forschenden Drang, alles zu ergründen und aufzusaugen, was dem Projekt dienlich sein könnte. Die Konzeption sollte man ebenfalls nicht als Phase verstehen, die man einmal abschließt und deren Ergebnis unveränderbar ist, sondern eher als die stete Planung von immer neuen Experimenten. Selten gelingt ein Experiment beim ersten Versuch. Ein neues Konzept muss her! Ausprobieren und scheitern! Ändern bis es gelingt! Auch das Entwerfen ist nicht etwa ein Akt, der erst beginnt, sobald die Recherche und das Konzept abgeschlossen wurden. Warum nicht gleich zu Beginn einen Entwurf als 3-dimensionale Skizze aus Pappe und Draht im Maßstab 1:1 in den Raum stellen?
Zu genau solch einer konstruktiven Konfrontation kam es beim Besuch des Möbelherstellers Wilkhahn, als die Studierenden mit ihren eigenen Entwürfen Entwicklungsleiter Michael Englisch und Burkhard Remmers (Leiter Internationale Kommunikation) gegenüber saßen und die konzeptionelle Hingabe und kulturelle Tiefgründigkeit erfahren durften, mit der man sich bei Wilkhahn dem Thema Sitzen widmet. Um vielseitige Einblicke in die Industrie zu erhalten und um gegebenenfalls erste Kontakte knüpfen zu können, wurden neben der Exkursion zu Wilkhahn auch die Besteckmanufaktur Carl Mertens und der Elektroautobauer e.GO besichtigt. Die Besichtigungen der drei sehr unterschiedlichen Unternehmen gewährte eine Heterogenität an Einblicken und Erkenntnissen, die sich auf die individuellen Projektvorhaben der Studierenden übertragen ließen.
Wenngleich die meisten Vorhaben zu Beginn des Projekts entgegen der Vorgabe noch nicht so weit waren, dass man hätte sagen können, dass sie nur noch 25% von ihrer Fertigstellung entfernt gewesen wären, haben sich im Laufe des Projekts alle Studierenden mindestens zu diesem Stand der Dinge vorarbeiten können. Die ungewöhnliche Aufgabenstellung und der vielseitige Input haben in den Ergebnissen zu einer hohen konzeptionellen Reife und Umsetzungstiefe geführt. Die Studierenden haben Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse gewonnen, die es ihnen in Zukunft hoffentlich ermöglichen werden, der ganzheitlichen Durchdringung von komplexen Fragestellungen und der Fertigstellung von Projekten bis ins letzte Detail näher zu kommen. Denn das Projekt hat auch gezeigt, dass man sich ein ganzes Semester mit den letzten 25% beschäftigen kann und die 100% dennoch nie erreicht werden. Nichtsdestotrotz sind wir begeistert von den Ergebnissen. Die nächsten Seiten zeigen zunächst Eindrücke von den Exkursionen zu e.GO, Carl Mertens und Wilkhahn, bevor die individuellen Arbeiten der Studierenden und deren intensiven und sehr unterschiedlichen Entwicklungsprozesse vorgestellt werden.